zur politik der marx-brothers
A Night at the Opera / Die Marx-Brothers in der Oper, USA 1935
Sam Wood, Regie
Mit diesem Film sind die Marx’ das erste Mal bei MGM. Vorher, noch bei Paramount unter Vertrag, hatten sie mehr kreative Freiheiten. Ihre Filme mussten keine Handlung haben. “A Night at the Opera” hat eine: Zwei Tenöre, eine schöne Frau, drei Marx’. Der erste Tenor soll in die USA importiert werden, an die New Yorker Oper. Der zweite hätte es aber viel mehr verdient - umso mehr, als er zusammen mit seiner geliebten Sängerin den Weg von Mailand in die neue Welt antreten könnte. Doch der andere soll mit ihr fahren.
Der große Reisekoffer von Groucho bietet dem jungen Mann schließlich noch die Möglichkeit, mit aufs Schiff zu kommen (und die bietet er auch Chico und Harpo). Das ist eine großartige Szene: Grad so passt Groucho mit seinem Koffer in die mickrige Kabine; als er ihn öffnet sind sie schon zu viert drin. Diverses Personal kommt hinzu, für diverse Aufgaben. Keiner wundert sich über die Fülle an Menschen in dem kleinen Raum, jeder der kommt, tritt ein. Das ist ein Grundprinzip der Marx’schen Komik, welches hier, im Handlungs- und somit Sinnzusammenhang, mehr als in der Anarchie zuvor, zum Tragen kommt: Wen wundert’s?
Die Handlung ist ein System, aus dem man ausbrechen kann. Genau wie die gesellschaftlichen Situationen, die Groucho auf den Kopf stellt. So nimmt er etwa, am Anfang des Films, ein Treffen mit einer Dame “wahr”, indem er mit dem Rücken zu ihr - und mit einer jüngeren, einer Blonden - zu Abend ist, und erst mit der älteren in Kontakt kommt, als diese ihn aufrufen lässt. Ihre sprachlichen Einwendungen gegen sein Verhalten nimmt er ebenso sprachlich auseinander. Das sind Freiheiten, von denen nicht genau gesagt werden kann, ob man sie sich nehmen darf. Groucho nimmt sie sich - und liefert so einen Gegenbeweis (nach dem niemand verlangte) zu normativem Nachdenken über diese Situation. Das ist sein erster Auftritt. Das jeweilige Erscheinen von Harpo und Chico ist ebenso charakteristisch für ihre Charaktere. Das ist keine Tautologie. Die Marx’ sind sie selber. Chico - er machte den Deal mit MGM - handelt hier mit Groucho einen Vertrag aus. Die beiden nehmen sich dabei alle Freiheiten. Das sei Un-Recht? Keiner hindert sie; und sie kommen überein.
Die drei haben also alle Freiheit der Welt. Die, über die Gesellschaft und ihre Normen zu verfügen. Oder über die Zeit: Es gibt immer wieder Sequenzen, die ausgespielt sind, die bis an die Grenze gehen - und damit über die Grenzen der Hollywoodkonvention hinaus. Wenn also nach einer Solonummer von Chico (am Klavier, während der Überfahrt, unter den einfachen, heiteren Leuten) Harpo noch eine anschließt - so what? Und über den Raum. So in Grouchos Kabine: Es wird enger und enger; bald scheint nichts mehr zu gehen. Da kommt jemand und öffnet die Tür … So sind wir bei der “letzten Freiheit”, der Freiheit der Wünsche. Da treffen sich die Brüder mit dem Kino selber. Wie die Apparatur setzten sie hier ihre Wünsche für andere durch.
Bald immer in diesem Film hat die Kamera ihren festen Standpunkt. Gewissermaßen: Sie schaut, was sich vor ihr abspielt. Wie der Zuschauer im Theater, in der Oper. Doch das Kino hat die Freiheit der Montage. Während also der Zuschauer im Saal nur auf den festen Rahmen der Bühne schauen kann, da kann das Kino alle Rahmen sprengen – und die Leute im Kino verfolgen das mit.
Mit der Kajütensequenz wird somit ein Vorgeschmack aufs Finale des Films gegeben. In letzterem verwandelt Harpo die Opernbühne in ein Piratenschiff: Sie ist offen und kann von allen Seiten attackiert werden. So ist auch “A Night at the Opera” ein offenes Kunstwerk, eine selbstgestaltete und dennoch (mit)teilbare Welt. Das ist die Liebe zu den meisten ihrer Zuschauer und das ist die Freiheit der Marx’.
Abgelegt unter: filmtagebuch
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